„Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne“

8. Sinfoniekonzert der 160. Konzertsaison des Sinfonieorchesters Wuppertal

von Johannes Vesper

Foto © Johannes Vesper


„Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne“
 
8. Sinfoniekonzert der 160. Konzertsaison des Sinfonieorchesters Wuppertal
 
Von Johannes Vesper
 
Jean-Féry Rebel: Les Éléments
György Ligeti: Atmosphères
Bernd Alois Zimmermann: „Ich wandte mich und sah alles unrecht, das geschah unter der Sonne“ für zwei Sprecher und Bariton.
 
Die moderne Physik datiert den „Urknall“ vor ca. 13,8 Milliarden Jahren. Damals entstanden mit einem Mal Materie, Raum, Zeit, alles, was ist. Seitdem fliegt das All auseinander und uns um die Ohren. Dieses Sonntagskonzert begann immerhin mit einem musikalischen „Urknall“: einem Cluster aller Töne der d-Moll-Tonleiter gleichzeitig im Fortefortissimo, sozusagen mit orchestralen Unterarmen auf der ganzen Klaviatur. So schuf der Komponist das Sinnbild eines ursprünglichen Chaos und klangmalerisch die Elemente Erde, Wasser, Feuer Luft. Damit hatte Jean-Féry Rebel (1666-1747, Geiger, Hofkomponist in Paris 1837) rund 250 Jahre vor den Physikern (Einstein Lemaître, Hubble u.a.), immerhin schon mal musikalisch die Entstehung der Welt beschrieben. Schrilles Piccolo, kräftige große Trommel sorgen für Urknall-Klangverfremdungen, wie man sie im Barock der Entstehungszeit eigentlich nicht erwartet. Er selbst hatte dazu erläutert: „Die Einleitung zu dieser Sinfonie ist ganz naturgemäß: es ist ebendieses Chaos, die Verwirrung, die unter den Elementen herrscht, bevor sie, bestimmt von unabänderlichen Gesetzen, den Platz einnehmen, der ihnen nach der Ordnung der Natur vorgegeben ist.“ Die ganze Suite geht nach der Vorstellung der Elemente in einzelne Tänze über, die unterschiedlich, auch kammermusikalisch besetzt sind (Piccolo und Solo-Geige, Flöte mit Geige und Bratsche. Jagdhorn mit schnellen Tonrepetitionen). Sie bieten verschiedenste Klangfarben und wunderbare Musik, wobei das Continuo von der malerischen Langhalslaute geliefert wurde. Stufendynamik, Wechsel der Tempi, Virtuosität für alle, Feuer, Temperament, barocke Klangdurchsichtigkeit, Leben und Tanz: Das Publikum applaudierte begeistert, war erst zufrieden nach einer Zugabe aus diesem Schlüsselwerk des 18. Jahrhunderts.
 
Bei György Ligeti (1923-2006) ging es ernst weiter. Statt Urknall jetzt Sphärenklänge. Bei seinen „Atmosphères“ von 1961, ohne Melodie und ohne Rhythmus, also ohne konventionelle Charakteristika von Musik, quasi formlos schieben sich Klangflächen, Klangräume, ineinander, schichten sich übereinander aus tiefsten Tiefen der Kontrabässe in höchste Höhen zu den Piccoloflöten, verdämmern ins Nichts, um doch wieder an zuschwellen. Eine musikalische Entwicklung ist in dieser Musik nicht hörbar. Es handelt sich eher um den Ausschnitt aus einem ewig strömenden, musikalischen Zeitkontinuum. Untermischen von Geräuschen, (u.a. Reißen von Papier, Bürsten der Saiten des Flügels) entstehen höchst differente Klänge. An den Komponisten wird anläßlich seines 100. Geburtstages in diesem Jahr überall erinnert. Er stammt aus Ungarn und kam nach dem Ungarnaufstand 1956 nach Deutschland. Das Stück dauert knapp 10 Minuten, galt laut Programm schon bald nach seiner Uraufführung als das „schönste Stück der neuen Musik“ und wurde breiterem Publikum als Filmmusik bekannt. Stanley Kubrick benutzte Ausschnitte davon ohne Wissen und Zustimmung des Komponisten in „2001 - A Space Odyssey“. Der zehnminütige Strom endet in langanhaltender Stille, die Dirigent Patrick Hahn mit minimalen Bewegungen bis zum Schluß ausdirigierte. Auch hier gab es großen Applaus
 

stehend hinten: Stefan Walz - stehend vorne v.l.: Thomas Braus Patrick Hahn, Bo Skovhus - Foto © Johannes Vesper

Nach der Pause war die „ekklesiastische Aktion“ Bernd Alois Zimmermanns (1918-1970) zu erleben. Bariton (Bo Skovhus) Zwei Sprecher (Thomas Braus und Stefan Walz) tragen aus dem Buch „Prediger“ (4. Kapitel) des Alten Testaments bzw. aus dem „Großinquisitor“ (aus den Brüdern Karamasow) vor. „Ich wandte mich um und sah alles Unrecht, das geschah unter der Sonne“. Es handelt sich trotz riesigen Orchesters eigentlich nicht um ein sinfonisches Werk, eher vielleicht eine Kantate, tatsächlich am ehesten um eine vom Orchester in wechselnden Besetzungen kommentierte Erzählung. Wenige Tage nach der Beendigung der Komposition suizidierte sich der Komponist. Während der Aufführung wurde auf der Chorempore der Lebensbaum sukzessive beschnitten und der Saal abgedunkelt. In der ernsten Musik spiegelt sich die depressive Grundhaltung des Komponisten, den die Frage des Predigers Salomo umgetrieben hat: Was hat der Mensch für einen Gewinn für all seine Mühe. „Alles ist eitel“ und „seine Augen werden Reichtums nicht satt, Reichtums nicht satt, Reichtums nicht satt“, schreit der der Sprecher in das ff-Orchesterchaos. Konsum hilft überhaupt nicht! Das Schlimmste aber ist das Alleinsein. Da setzte (Partituranweisung) sich der Dirigent seitlich auf sein Dirigentenpodest und schlug die Hände vors Gesicht. Die Sprecher verließen ihre Positionen neben dem Dirigenten auf dem Podium bzw. neben der Orgel oben auf der Empore, begaben sich auf dieselbe und wollten sich sozusagen in dem doppelten Flaschenzug gegenseitig helfen das Leben zu meistern, was kaum gelingt (Konzertregie V. Lewisch). Auch der Bach-Choral „Es ist genug“ von den Bläsern gewaltig aus den Ecken des Großen Saals geblasen, spendete keinen Trost sondern brach kakophonisch ab, einleuchtend bei dem Elend, welches sich aktuell auf der Welt breitmacht (Krieg, Klimakatastrophe, Flucht, Erdbeben, Unrecht). Im Programm wird das Werk auf Probleme in der katholischen Kirche begrenzt. Das erscheint nicht plausibel. Die Bedeutung geht weit darüber hinaus. Das Werk erklang erstmalig in Wuppertal und das Publikum war stark beeindruckt von Ernst und der Schwerelosigkeit, mit der diese Aufführung gelungen ist. Man verharrte lange in Stille, spendete dann diesem bisher vielleicht wichtigsten Konzert der Saison großen Applaus für die Riesenleistung des Baritons, dessen klangvolle Stimme auch nicht trösten konnte, der Sprecher, des Dirigenten, des Orchesters und nahm gerne die vom Sinfonieorchester gebotenen frischen bunten Tulpen mit nach Hause.
 
8. Sinfoniekonzert „Lebensreise“, Sonntag den 2.4.2023
Historische Stadthalle Wuppertal, Großer Saal.
Bo Skovhus: Bariton - Thomas Braus, Stefan Walz: Sprecher - Valentin Lewisch: szenische Konzeption -  Sinfonieorchester Wuppertal, Patrick Hahn: Dirigent
Jean-Féry Rebel: Les Éléments - György Ligeti Atmosphères - Bernd Alois Zimmermann: „Ich wandte mich und sah alles unrecht, das geschah unter der Sonne“ für zwei Sprecher und Bariton.
 
Wiederholung heute, Montag, den 03.04.2034.

Weitere Informationen: www.sinfonieorchester-wuppertal.de